bibliothekar

Neue Wege 2015

Nick Ostermann war einer dieser jungen und dynamischen Bibliothekare, die angetreten waren, mit der alten – um nicht zu sagen, völlig veralteten – Bibliothekskultur zu brechen und das Bibliothekswesen von Grund auf umzukrempeln, dieses Bibliothekswesen, das solch überkommenen Vorstellungen verhaftet war wie der, ein Ort des ruhigen Arbeitens, des Lernens zu sein. So brachte er es auch nicht mehr über sich, von Nutzern oder gar von Lesern zu sprechen, verbanden sich ihm doch mit solchen Bezeichnungen unvertretbar hohe Erwartungen an die Menschen, die eine Bibliothek aufsuchten. Wenn sie es zu ihrem Nutzen taten, dann war es gut, wenn nicht, ebenfalls. Wichtig war ihm allein, dass sie überhaupt kamen, zu welchem Zwecke auch immer. Und auf eine überkommene Kulturtechnik wie das Lesen von Büchern mochte er sie schon gar nicht festlegen. Seine Einstellung brachte ihn dahin, sie vielmehr als Kunden zu bezeichnen. „Sie da abzuholen, wo sie gerade stehen, ist unsere Aufgabe“ lautete sein Credo, und er wähnte sich ganz im Geiste einer neuen Zeit. Diesen Leitsatz in der Praxis umzusetzen war er bereit, auch unkonventionelle Wege zu beschreiten. Nick Ostermann hatte bereits einige Aufsätze zu diesem Thema verfasst, die ihn in der Fachwelt bekannt gemacht hatten. Doch hatten diese zu seinem Leidwesen nur in bibliothekarischen Fachzeitschriften erscheinen können. Sein Bemühen, auch hier Grenzen zu überschreiten und eine Öffentlichkeit jenseits dieser zu erreichen, scheiterte an einem Mangel an Interesse dort. Aber immerhin hatten sie ihm eine leitende Position in einer kleinen Hochschulbibliothek eingebracht, gelten doch ein paar in einem anerkannten Fachorgan veröffentlichte Aufsätze noch immer als Nachweis von Qualifikation – wogegen er durchaus nichts einzuwenden hatte.

Nun war Nick Ostermann also in die Praxis geworfen, in die Niederungen des Berufes, er war Bibliotheksrat, war verantwortlich geworden für die Benutzungsabteilung einer kleinen Hochschulbibliothek. Er hatte sich nicht weniger vorgenommen, als diese zum Nabel der bibliothekarischen Welt zu machen, und mit Schwung ging er umgehend daran, seine Vorstellungen von einer dieser Zeit gemäßen Bibliothek zu realisieren. Der erste Schritt sollte sein, alle Eingangstüren aushängen zu lassen, um einen wirklich ungehinderten Zugang zur Bibliothek zu ermöglichen. Sein Verständnis von Offenheit und Barrierefreiheit ging so weit, dass schon die Notwendigkeit des Herunterdrückens einer Klinke nicht mehr zwischen den Menschen und der Bibliothek stehen sollte. Ihm schwebte das Bild eines offenen Wandelganges vor, wo Menschen im Gespräch auf und nieder gingen, glückliche Menschen, weil nicht von Regeln eingeengt, wie er mit glänzenden Augen verkündete … allerdings scheiterte dieses erste Vorhaben am heftigen Einspruch des Sicherheitsbeauftragten der Hochschule, der nicht nur auf das erhöhte Risiko von Diebstählen hinwies, sondern vor allem die Brandschutzverordnung zitierte, die Türen zwingend vorschreibt. Diese durften nicht ausgehängt werden und blieben, wo sie waren. Zu Nick Ostermanns tiefem Bedauern musste, wer die Bibliothek betreten wollte, weiterhin Klinken herunterdrücken.

Aber er ließ sich nicht entmutigen. Unbeirrt wollte er seiner Vision folgen, wollte auf dem Weg in eine bessere Bibliothekszukunft voran schreiten. Und schon bald bot sich ihm die Möglichkeit, auf diesem eine guten Schritt weiter zu kommen. Weihnachten stand vor der Tür. Die Kolleginnen und, ja, auch die wenigen Kollegen waren damit beschäftigt, sich wie in den Jahren zuvor auf eine Weihnachtsfeier vorzubereiten. Man dachte an Glühwein und erörterte die Frage, wo ein Topf aufzutreiben wäre, groß genug für den Durst aller, nein, nicht aller, die Neue aus der Leihstelle bestand auf einem alkoholfreien Getränk; man dachte an Plätzchen, wer welche backen würde, und erinnerte sich der Vanillekipferln der einen oder des Schwarzweißgebäcks einer anderen Kollegin; ein Kollege aus der Fernleihe erbot sich, die Weihnachtsgeschichte vorzulesen, „Ach nein, nicht doch wieder die“, maulten wiederum andere; und ein paar der jüngeren Kolleginnen fragten schüchtern, ob man vielleicht auch wieder wichteln könnte, Schrottwichteln, das machte doch immer solchen Spaß. Nick Ostermann bereitete diesen Überlegungen kraft seines Amtes ein Ende, seine Vorstellungen gingen in eine andere Richtung. Was den Kolleginnen und, ja, auch den wenigen Kollegen da vorschwebte, das wäre nun wirklich nicht mehr zeitgemäß und zeige eine veraltete Bibliotheksmentalität. Das Fest böte doch vielmehr eine wunderbare Gelegenheit, ein Zeichen zu setzen, indem die Türen, wenn man sie schon nicht aushängen konnte, doch weit geöffnet und Menschen in die Bibliothek geholt würden, die sonst den Weg dorthin nicht fänden. Nick Ostermann offenbarte nun dem staunenden Kollegium seinen großen Plan. Anstelle einer kleinen internen Feier bei Glühwein und Keksen schwebte ihm eine ganz besondere Veranstaltung vor, wie es sie so noch nie gegeben hatte, eine, die ein Signal sein würde. Eine Randgruppe sollte da abgeholt werden, wo sie sozusagen war, sollte an die Bibliothek herangeführt werden, eine Gruppe, die den Zugang zu ihr ohne eine solche Einladung gewiss niemals finden würde. „Wir holen Analphabeten in die Bibliothek“, verkündete er emphatisch – und war dann nicht nur wenig enttäuscht, dass die Kolleginnen und, ja, auch die wenigen Kollegen so gar keine Begeisterung zeigen mochten, dass ein älterer Kollege sogar ein irritiertes „Wozu soll das denn gut sein?“ verlauten ließ. Doch ließ er sich von diesem Mangel an Begeisterung nicht von seinem Vorhaben abbringen. Bedenkenträger gab es schließlich überall. In Gedanken formulierte er bereits an einen Artikel für eine Fachzeitschrift und malte sich aus, welches Aufsehen seine Aktion durch diesen erregen würde. „Bibliotheken öffnen sich Analphabeten“ sah er bereits gedruckt vor sich – wie ein Lauffeuer sollte es durch die Lande hallen. Und wessen Initiative würde es gewesen sein? Seine, Nick Ostermanns!

Zielstrebig veranlasste Nick Ostermann die notwendigen vorbereitenden Schritte. In Absprache mit dem Bibliotheksleiter, der nur eher beiläufig „Ja, ja, machen Sie mal“ anmerkte, legte er einen Termin fest und ging daran, einen Weihnachtsbaum sowie alles, was sonst noch für eine Feier notwendig war, zu organisieren. Ein großes Problem war allerdings, Analphabeten zu erreichen, um sie einzuladen; es gab keine Ansprechpartner, er kannte zumindest keine. So telefonierte er mit Sozialverbänden, von denen er jedoch nur den Rat erhielt, lieber andere Menschen, eventuell Flüchtlinge einzuladen, das wäre viel leichter zu bewerkstelligen; er telefonierte mit der Volkshochschule, kam aber auch auf diesem Wege nicht weiter, da man ihm dort unter Hinweis auf den Datenschutz keine Personen benennen konnte oder wollte. Schließlich erbrachte ein Gespräch mit einem Redakteur der Lokalzeitung wenigstens die Zusage, einen Aufruf abzudrucken. Dieser Redakteur ist dann sogar in die Bibliothek gekommen, um Nick Ostermann zu interviewen; ein Pressefotograf sollte am Abend der Feier hereinschauen und ein paar Fotos zur Illustration des geplanten Berichtes machen.

Schließlich war der große Tag gekommen. Die Bibliothek präsentierte sich nach der Schließung im Glanze all ihrer Lichter, wenn auch mit völlig leeren Regalen. Nick Ostermann hatte nämlich sämtliche Bücher und Zeitschriften entfernen lassen mit dem Argument, dass die erwarteten Gäste ja als Analphabeten nicht lesen könnten, es mithin doch eine Kränkung wäre, sie mit Gedrucktem zu konfrontieren. Die Kolleginnen und, ja, auch die wenigen Kollegen hatten sich eine nach dem anderen entschuldigt, sie waren leider, leider verhindert, hatten Termine vorgeschoben, spürten plötzlich, dass eine Grippe im Anzug war, und einige, die nicht schon im Vorfeld abgesagt hatten, reichten noch am Morgen gelbe Zettel ihrer Ärzte ein, so dass am Abend der Initiator dieser Unternehmung ganz allein übrig war. Und er blieb auch allein. Als der Pressefotograf ein, zwei Stunden später in die Bibliothek kam, um die Aufnahmen zu machen, fand er dort den Bibliotheksrat vor einem Weihnachtsbaum auf dem Boden hockend vor, einen Becher mit Glühwein in der Hand, Kekse muffelnd.

Währenddessen saßen die Kolleginnen und, ja, auch die wenigen Kollegen in einem Gasthaus in der Stadt bei einer kleinen, spontan organisierten Weihnachtsfeier gemütlich beieinander.

Autor: Rainer Pörzgen