bibliothekar

Der Heilige Abend 2006

Es war bereits dunkel, und der Blick aus dem Fenster fiel in leere Straßen. Niemand war unterwegs, keine Menschen gingen, liefen, eilten, keine Autos fuhren, kein Rufen und Hupen war zu hören. Leise rieselte der Schnee, still und stumm lag die Stadt. Die Menschen waren zu Hause bei ihren Familien, denn es war Heiligabend. Hinter dem Fenster seines Wohnzimmers stand ein Bibliothekar und schaute hinaus. Versonnen beobachtete er die hernieder tänzelnden Schneeflocken und blickte verträumt auf die warm-gelb erleuchteten Fenster. Hier und da konnte er sogar die Lichter eines Tannenbaums erkennen. Er drehte sich um. Vor ihm auf dem Tisch brannte neben einem Tannenzweig ein Teelicht, und in einer Bechertasse dampfte Fencheltee. Auch er hatte feiern wollen, aber so recht wollte sich keine weihnachtliche Stimmung einstellen. Was sollte er tun? Lesen, wie jeden Abend? Unschlüssig stand der Bibliothekar neben dem Tisch und trank einen Schluck Tee. Da ging es wie ein Ruck durch ihn. „Es ist die Heilige, die Heiligste Nacht!“, dachte er, und wenn ihm schon keine Familie gegeben war, wollte er doch diesen Abend nicht allein, sondern wenigstens von denen umgeben verbringen, die ihm wichtig und teuer waren. Er füllte den Fencheltee in eine Thermoskanne, dann löschte er das Teelicht, packte Kanne, Tasse und Licht zusammen mit dem Tannenzweig in einen Stoffbeutel. Anschließend schlüpfte er in die Winterstiefel, die er ordentlich mit Doppelknoten zuband. Er zog seinen Mantel an, wickelte sich einen Schal um den Hals und setzte eine Mütze auf. Kurz überlegte er, den Schirm mitzunehmen, doch erschien ihm das weder der Jahreszeit noch dem Fest angemessen. „Hat man jemals ein Weihnachtsbild gesehen, auf dem Menschen mit Regenschirmen herumlaufen?“, murmelte er vor sich hin, „Das ist schließlich Schnee, kein Regen!“. Er nahm sich jedoch vor, gleich nach den Feiertagen nachzuschlagen, ob es das Wort Schneeschirm gibt. Den Stoffbeutel in der einen Hand griff er mit der anderen im Hinausgehen nach dem großen Schlüsselbund am Schlüsselbrett. Dann verschloss er die Wohnungstür, stieg die Treppen hinab und trat auf die Straße hinaus. Fast wäre er auf dem frischen Schnee ausgerutscht. Den Weg kannte er gut. Merkwürdig war ihm nur, allein unterwegs zu sein. Hier unten wirkten die Straßen in dem vom Schnee getrübten Licht der Straßenlampen noch leerer, als sie von oben ausgesehen hatten. So sehr er sich sonst in dem morgendlichen Gewimmel bedrängt fühlte, von den lauten und rennenden Kindern auf dem Schulweg, von den stur geradeaus stapfenden Männern und Frauen, die mit gesenkten Blicken ihrer Arbeit zustrebten, so dass er hin und her ausweichen musste – nun fehlten sie ihm alle. Ihm kam es fast so vor, als wäre er in einer fremden einsamen Gegend ausgesetzt worden. Die über ihm schwebenden warm-gelb erleuchteten Fenster erschienen ihm wie Lichtsignale von ganz weit her. Doch er erkannte wieder, woran er jeden Morgen vorüber ging, und fast hätte er den Buchladen zwei Häuser weiter oder den Zeitschriftenkiosk vorn an der Ecke wie gute, alte Bekannte begrüßt. Er eilte durch die leeren Straßen, und da er niemandem auszuweichen brauchte, sondern zügig voran kam, dauerte es keine zehn Minuten, bis er vor der hohen Tür stand, dem Eingang der Bibliothek. Er zog den Schlüsselbund aus der Tasche, schloss auf, knarrend bewegte sich das hölzerne Ungetüm. Er trat ein und verschloss die Tür wieder hinter sich. In der Bibliothek war es noch stiller als draußen auf den Straßen. Unwillkürlich versuchte auch er, stiller zu sein, leiser zu atmen etwa, sogar sozusagen nur flüsternd zu denken. Er schaltete gerade so viel Licht ein, wie nötig war, um ohne zu stürzen den Lesesaal zu erreichen. Gleich suchte er seinen Lieblingsplatz auf. Das war eine der wenig besuchten Ecken im hinteren Bereich, wo selten benutzte Bücher standen. Seine Kapelle nannte er diesen Ort. Und tatsächlich ergriff ihn jedesmal eine Art religiösen Schauders, wenn er ihn betrat. Hier waren Wörterbücher, Transkriptionstabellen und Grammatiken altorientalischer Sprachen versammelt. Braunmatte und goldglänzende Buchrücken umgaben ihn, aus Leder oder Leinen, selten, sehr selten einmal aus Pappe. Unvertraute Schriften, die zu lesen er nicht imstande war, gaben seiner Kapelle zudem etwas Mystisches, Geheimnisumwittertes. Hier fühlte er sich so geborgen wie an keinem anderen Ort, hierhin floh er manchmal, wenn die Anforderungen seines Berufes ihn zu überwältigen drohten. Hier war er so gut wie sicher vor diesen furchtbaren Menschen, die unwissend und laut die Bibliothek bevölkerten, immer nur auf der Suche nach Kopiervorlagen oder Seminarskripten, die vermutlich noch nie in ihrem Leben ein Buch in die Hand genommen hatten und das wohl auch nie tun würden. „Was“, fragte er sich oft verzweifelt, „was wollen diese Menschen überhaupt in einer Bibliothek?“

Er stellte Thermoskanne und Bechertasse auf einen der Tische und legte den Tannenzweig daneben. Nachdem er das Teelicht angezündet hatte, löschte er die Lampen. Fast dunkel war es nun in seiner Kapelle. Die Goldprägungen der Buchrücken in den Regalen gaben das Licht der kleinen Kerze als goldene Punkte zurück, die mit ihrem Flackern aufleuchteten und wieder vergingen. Die weihnachtliche Stimmung ließ bei diesem Sternengefunkel nicht auf sich warten. Der Bibliothekar fühlte sich unter Freunden. Er setzte sich an den Tisch, goss Fencheltee in seine Tasse, trank und gab sich der feierlichen Stimmung hin. Einen Augenblick lang überlegte er, das Wort Schneeschirm jetzt nachzuschlagen, da er doch in der Bibliothek war. Aber gleich erinnerte er sich daran, dass Heiligabend war – „ein heiliger Abend an einem heiligen Ort“, wie ihm in den Sinn kam. Mitunter verspürte er nämlich eine leichtfertige Neigung zu Wortspielereien. Doch wie er so still vergnügt in seiner Lesesaalecke saß, hörte er plötzlich – und erschreckt fuhr er von seinem Stuhl hoch – die große Eingangstür knarren. Wer mochte da kommen? Hatte ein Nachbar das Licht in der Bibliothek bemerkt und die Polizei gerufen? „Aber nein“, beruhigte sich der Bibliothekar, „die käme nicht so leise“, um sich gleich, wieder beunruhigt, zu fragen: „Leise?“ – das mussten Einbrecher sein – „Haben Einbrecher nie einen freien Abend, nicht einmal heute, am Heiligen Abend?“. Verhaltene Schritte waren nun zu hören. Er wagte kaum zu atmen. Endlich kam ihm der Gedanke, das Teelicht zu löschen. Er pustete es aus, als gerade das Licht im Lesesaal anging. Er saß da wie erstarrt und wartete, wer da kommen würde.

„Was machen Sie denn hier?“ Nicht die Polizei, auch kein Einbrecher, eine Kollegin war es, die das Licht eingeschaltet hatte. Sie kam auf ihn zu und sah ihn an. Er spürte, dass sein Gesicht sich rötete Da saß er am Abend in der längst geschlossenen Bibliothek in einer hinteren Lesesaalecke mit einem Tannenzweig, dem nicht mehr brennenden Teelicht und der noch dampfenden Teetasse vor sich auf dem Tisch. Seine Kapelle hatte er entweiht, er hatte pflichtvergessen gehandelt, er hatte gegen die Benutzungsordnung verstoßen sogar – er fühlte sich wie ein ertappter Sünder. Er war der Einbrecher. Doch beschämte ihn nicht nur, dass er erwischt worden war, sondern vor allem, dass es diese Kollegin war, die ihn erwischt hatte. Wie er arbeitete sie am Auskunftsschalter, und schon so manches Mal hatte er verstohlen zu ihr hinüber geblickt, wenn die dienstlichen Belange es erlaubt hatten. Er fand sie ansprechend, für eine Bibliothekarin sogar fast hübsch. Sie hatte reizende Grübchen, wenn sie lächelte. Sie lächelte auch jetzt in dieser verrückten Situation, sie stand vor ihm und lächelte ihn an, und das Rot seines Gesichtes wurde noch ein wenig dunkler. „Sie brauchen doch nicht rot zu werden“, sprach sie – sie flüsterte nicht wie sonst – „Ich habe es allein zuhause auch nicht ausgehalten“. Erst jetzt bemerkte der Bibliothekar, dass die Kollegin eine Tasche bei sich hatte, der sie Kerzen, Thermoskanne und Tasse, sogar eine kleine Dose mit Keksen entnahm. Sie zündeten das Teelicht und die Kerzen an, schalteten die Lampen wieder aus, setzten sich an den Tisch und kamen ins Plaudern. Das Gesicht des Bibliothekars fand langsam zu seiner normalen Farbe zurück. Die beiden stellten bald eine Übereinstimmung der Interessen fest, beide lasen sie gern und viel, worauf sich von ihren aktuellen Lektüren erzählten, auf andere gelesene oder noch zu lesende Bücher hinwiesen, auch auf solche zu sprechen kamen, die sie beide gelesen hatten. Sie bemerkten dabei, dass sie sich sympathisch waren, ja, dass sie sich mochten, so wechselten sie vom förmlich-kollegialen Sie zum intimeren Du, wobei beide ein wenig erröteten. „Hedwig“, hauchte der Bibliothekar, „Karl-Heinz“, hauchte die Kollegin zurück.

Da der Mensch in der Unsicherheit seiner Gefühle gern nach einen Vorwand greift, um die Nähe eines anderen zu suchen, mochte auch der Bibliothekar nicht unvermittelt die Hand seiner Kollegin in die seine nehmen. Er war deshalb schon eine Weile, während sie am Tisch saßen und über Bücher plauderten, damit beschäftigt, sich einen solchen auszudenken, immer in der Sorge, dass sie eine leichte Abgelenktheit bei ihm bemerken könnte. Schließlich schlug er ihr einen Spaziergang vor. Er stellte sich vor, wie sie beide – Hand in Hand – durch die verschneiten Straßen gingen, wie sie sich wegen der Kälte, um sich an ihm zu wärmen, an ihn schmiegte. Doch würden sie für einen solchen Spaziergang die Bibliothek verlassen müssen, den Ort, an dem sie sich gefunden hatten, den er nun als einen besonderen Ort ansah, der Liebe, Schutz, Geborgenheit versprach, der ihm eine Oase der Gefühle in einer ansonsten kalten Welt zu sein schien, den er so schnell noch nicht verlassen mochte. Er schlug deshalb vor und war hocherfreut, als die Kollegin dem sofort zustimmte, den Spaziergang hier im Lesesaal zu machen, an den Regalen entlang zu gehen, in einer beiden vertrauten Umgebung. Und so machten sie es. Sie wandelten, noch immer plaudernd, an den Regalen entlang, der Abstand zwischen ihnen wurde geringer und geringer, schließlich berührten sich ihre Arme, und auch ihre Hände fanden zueinander. Zwei Herzen schlugen in einem Takt. Die Zeit hielt inne. Fanfaren schmetterten und himmlische Chöre jubelten: es war der Heilige Abend, der Vorabend des Festes der Liebe, der schönste Heilige Abend, den man sich vorstellen kann. Während sie so an den Regalen entlang wandelten, Hand in Hand, aneinander geschmiegt, glitten die Blicke des Bibliothekars und seiner Kollegin über die Buchrücken. Deren Aufdrucke waren kaum zu lesen, denn das Licht der Kerzen reichte nicht weit. Dennoch wies sie ihn bald auf eine Unregelmäßigkeit hin. „Schau mal“, sagte sie, „das gehört doch gar nicht hierher“. Tatsächlich hatte sich zwischen die Bücher über altorientalische Sprachen eines über die keltischen Wurzeln einiger französischer Dialekte insbesondere des Bretonischen verirrt. Das war sofort an der Signatur zu erkennen, die völlig von denen der benachbarten Bücher abwich. Das konnte also kein Zufall sein, da hatte jemand mit Absicht gehandelt, das roch nach Sabotage, nach Störung der geheiligten Ordnung. „Wer macht denn so etwas, wer verschleppt Bücher und entzieht sie dem interessierten Leser?“, dachte der Bibliothekar laut. Zwar konnte er sich nicht erinnern, dass in den letzten Jahren danach gefragt worden wäre, kommen doch die Menschen nur noch auf der Suche nach Kopiervorlagen, Seminarskripten und ähnlichen Oberflächlichkeiten, niemals an Büchern interessiert in die Bibliothek. Die Kollegin war völlig seiner Meinung. „Wie recht du hast, Karl-Heinz“, sagte sie, nun wieder flüsternd. Sie nahmen das falsch eingeordnete Buch aus dem Regal. Doch da stöhnte der Bibliothekar auf. „Nein, Hedwig, schau Dir das an“, flüsterte nun auch er, „Eine Doppelsignatur!“ Sie schalteten die Lampen im Lesesaal an, löschten das Teelicht und die Kerzen, tranken beide noch einen Schluck Tee und begaben sich daran, die Regale von Verstellungen und Doppelsignaturen zu bereinigen. Sie stellten an den richtigen Platz, was falsch gestanden hatte, und sie sammelten die falsch signierten Bücher auf einem Tisch, um sie nach den Feiertagen einer Überarbeitung zuzuführen. Nun fühlten sie stärker als zuvor, dass sie sich endlich als verwandte Seelen, als füreinander bestimmte Menschen gefunden hatten. Er wusste und auch sie wusste, dass von nun an ihrer beider Leben sich zu einem verbinden würden, und beide hatten sie, angerührt von solch starkem Empfinden, feuchte Augen.

Autor: Rainer Pörzgen