Damals in Weimar 2009
Für die Literaturwissenschaft ist es bislang eigentlich nie ein Thema gewesen, es muss sogar festgestellt werden, dass viele Germanisten es kategorisch ablehnen, sich überhaupt mit diesem Aspekt der Goetheforschung zu beschäftigen. Mit Vorurteilen, mit vorgefassten Meinungen muss man offensichtlich selbst in akademischen Kreisen rechnen. Was sind das nur für Professoren, für Doktoren, für Forscher, die Neugier und Offenheit aus Angst um ihr lächerliches Bisschen an Reputation zurückstellen? Eine Schande ihres Berufsstandes sind sie … doch will ich mich nicht vom Ärger überwältigen lassen. Weiß ich doch, dass hier die Wahrheit ist und da ihr Kleinmut, und dass ganz sicher der Tag kommen wird, an welchem sie erkennen müssen, dass sie und wie sehr sie geirrt haben. Es darf nämlich nicht nur als gesichert angesehen werden – es ist belegt! Läsen doch diese akademischen Amtsinhaber nur die Tagebücher unseres Dichterfürsten gründlicher, ach, läsen sie sie doch selbst, statt sie von Assistenten, Doktoranden oder anderen geistigen Zuträgern lesen zu lassen, so gäbe es all’ die Zweifel nicht mehr, dann müssten sie zur Kenntnis nehmen, dass der Geheimrat von Goethe im Jahr 1798 in der Adventszeit seinen Sohn August an die Hand nahm, um mit ihm die Weimarer Bibliothek aufzusuchen. Denn August war ein Knabe, der sehr zum Leidwesen seines Vaters dem Lesen leider gar nicht zugetan war. Gelegentlich tobte August zwar mit Schillers Karl durch die Ilmenauen; am liebsten jedoch spielte er in seiner Kammer für sich allein mit der Laterna Magica, einem Geschenk seines Onkels Christian August, das Goethe zutiefst missbilligte. Stundenlang konnte er sich wie herausgelöst aus der Welt den bunten Bilderreigen hingeben. Dem Vater, bekanntermaßen ein Mann des Wortes – was sage ich, wie untertreibe ich? – ein Mann der Wörter, vieler Wörter, un homme des lettres, konnte das nicht gefallen. „Auguscht“, sprach er oft zu seinem Sohn, „du musst lese!“ Und August dachte an seine Laterna Magica und sagte: „Ja, Papa“.
Der Vater zügig vorneweg, der Sohn zögerlich hinterdrein, so gingen sie also den kurzen Weg vom Haus am Frauenplan zum Schloss, in welchem die Bibliothek untergebracht war. Man begrüßte die beiden dort überaus höflich, ein wenig unterwürfig sogar, was aber durchaus angemessen war, war doch der Herr von Goethe seit kurzem auch verantwortlich für die Büchersammlung des herzoglichen Hauses. Und das ist wohl gewiss, dass die Leute damals ein gutes Gespür hatten für gesellschaftliche Stellung, dafür, was wer wem schuldig war – völlig unvorstellbar wäre etwa ein gemurmeltes „Tach, Chef“ gewesen in jener guten alten Zeit. „Mein Sohn“, sprach dieser, „de Winter in Gänze, im Besondere awwer die vor uns liegende Feierdaach sinn e günstische Zeit, die Neischung zu unnerstütze, ein gudes Buch zur Hand zu nämme. Auch isch habbs als so gehalde, seid misch moi wohlmeinender Baba damals in Frankfort an Büscher herangeführt unn mer somit de Welt erschlosse hot. Und isch halts blos desdeweje heit nimmer so, weil isch eijendlisch alszu lese“. Es ist nicht überliefert, ob der kleine August etwas von der Größe des Augenblicks verspürte. In Goethes Tagebuch finden sich nur Notizen zu seinen eigenen Worten. Was hätte auch ein Neunjähriger der Nachwelt mitzuteilen gehabt? Aber Generationen literaturbeflissener Deutscher hätten was weiß ich dafür gegeben, von unserem größten Dichter in die Welt der Literatur eingeführt zu werden, von ihm ein Buch in die Hand gedrückt zu bekommen und des Meisters Worte zu vernehmen: „Lies des“. In einer solchen Situation des überbordenden Glücks befand sich August im Advent des Jahres 1798, und dieser Moment darf und kann auch nicht relativiert durch einen banalen Hinweis darauf, dass Goethe schließlich sein Vater gewesen ist. Ein solcher Einwand wird einem solchen Augenblick nicht gerecht.
Was hätte näher liegen können, als dem Sohn die wunderbaren Bücher des Vaters anzubieten? Einen Fürstensohn, einen Prinzen kleidet man schließlich auch nicht in grobes Sackleinen wie einen Bauerntölpel, sondern nur in allerbeste Stoffe wie Samt und Seide. Und ein Hirsebrei vermöchte wohl leicht einen edleren Magen verderben. Selbstverständlich verfügte die Bibliothek über sämtliche Werke Goethes, meist auch in mehreren Exemplaren. Was davon der Herzog nicht hatte anschaffen lassen, das hatte voller Verantwortung den nachkommenden Generationen gegenüber und deshalb stets um das geistige Erbe bemüht der neue Bibliotheksleiter ergänzt. So konnte der Herr von Goethe seinen August an eine Regalwand führen, wo sich von dem frühen Roman Die Leiden des jungen Werther in sämtlichen Ausgaben und Auflagen bis hin zu den erst kürzlich mit Schiller, jenem nicht ganz so großen Freunde, verfassten Bände Xenien und Balladen alles fand, was im Laufe der Jahre aus der Feder dieses unseres größten Dichters geflossen war. Der nahm ein schmales Bändchen aus dem Regal, ermahnte den Sohn, gut zuzuhören, und las ihm vor: „Was fär aanen Leser isch wünsche? De unbefangenste, der misch, sisch unn de Welt vergisst, unn in dem Buch blos lebt.“ Er fügte hinzu: „Des habb isch gemeinsam mit Onkel Schiller geschriwwe. Sudelköch hot uns danach ein Schandmaul genannt. Dir gfällts doch?“ Und der Sohn, zum Vater aufblickend, antwortete „Ja, Papa“.
Im Bewusstsein seiner eigenen Größe und Bedeutung ging der Geheimrat nun langsamen Schrittes, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, an den Regalen entlang und ließ seinen Blick voller Wohlgefühl über die zahlreichen Buchrücken gleiten. Seinem Sohn winkte er, ihm zu folgen. „Do“, sagte er schließlich, indem er kurz verweilte, „do siehst du moi erschdes Buch, de Werther. Awwer des is noch nix für disch. Zu gfährlisch“. Er dachte an all’ die jungen Männer, die sich nach dessen Lektüre das Leben genommen hatten. Diese empfindsamen Narren! Für Narren hatte er sie nämlich immer gehalten. Er schritt weiter und nach ein wenigen Schritten blieb er erneut stehen, ergriff ein Buch und reichte es seinem Sohn: „Awwer do, de Reineke Fuchs, des kannst de lese. Des issn gudes Buch für en Bub … was ist? Warum nimmst des denn nischt?“ Der Knabe schwieg. Sein Blick ging zu seinem Vater hinauf, senkte sich dann auf das Buch, das ihm hingehalten wurde, und verlor sich schließlich irgendwo seitwärts in der Bibliothek. „Was issn mit dem Buch?“, fragte Goethe. „Des solltest de lese. Du weißt doch, dass de lese musst.“ August dachte voller Sehnsucht an seine Laterna Magica, er dachte an die bunten Bilder, an die lustigen Geschichten, die sie erzählten. Er wollte seinen Vater wahrlich nicht verärgern, aber den Reineke Fuchs wollte er auch nicht lesen … wenn er schon lesen sollte, dann vielleicht ein anderes Buch, ein spannenderes, eines voller Abenteuer, mit Helden, mit Rittern oder Räubern. „Papa“, antwortete er schließlich kleinlaut, „ich weiß, dass ich lesen soll. Aber darf ich dann nicht das Buch vom Onkel Christian August lesen, das über den Räuberhauptmann?“ Goethe rang nach Luft. „De Rinaldo Rinaldini?“, schnaufte er verächtlich und leise fügte er hinzu: „Des hawwe mer hier nedd. Selbstverschdändlisch nedd. Frach dei Mudder danach, die liest so ebbes“.
Am Abend sagte Herr von Goethe zu seiner Frau Christiane: „De Bub is missrate. Was soll ausm bloß werre?“ Das ist im Tagebuch nachzulesen. Später schrieb er an seine Herzensfreundin Frau von Stein, dass es wohl so sein müsse, dass selten, wenn nicht sogar nie in einer Familie einem Großen ein weiterer Großer folgen könne. Der Brief ist erhalten. Dafür, dass er aber dann den Räuberroman Rinaldo Rinaldini seines Schwagers Vulpius selbst gelesen und danach gesagt hätte „Gar nedd so schlescht“, gibt es allerdings keinen einzigen Beleg – wie übrigens auch nicht dafür, dass er noch einmal mit seinem Sohn August in die Bibliothek gegangen wäre.
Zu danken habe ich Knut Herter in Bensheim, dessen Übersetzungsprogramm http://www.iwwersedser.de mir eine große Hilfe war, sowie meiner Kollegin Karen Heckmann für ihre Hilfe bei der Überarbeitung der Sätze in hessischer Mundart.