Der Weihnachtsmann in der Bibliothek 1995
Ihm ist, als höre er in der Stille des Lesesaales ein kaum wahrnehmbares Klingeln. Der Bibliothekar sieht auf. Soll er einen Kontrollgang machen? Ein Blick auf die Uhr sagt ihm, daß er damit den vorgegebenen Zeitraum erheblich unterschreiten würde. Seit dem letzten ist noch keine Stunde verstrichen. Gewiß kann er bei besonderen Vorkommnissen vorher gehen. Aber ist das hier eines: dieses leise Klingeln? Welch absurder Gedanke, ein Benutzer könne im Lesesaal sitzen und mit kleinen Glöckchen klingeln. Nein, einen Kontrollgang wird er nicht machen, nicht, bevor eine Stunde vergangen sein wird. Dafür sind die Voraussetzungen einfach nicht gegeben.
Doch es bleibt das Klingeln, das zudem langsam lauter wird. Vielleicht gibt es dieses Klingeln nicht wirklich. Da er nun schon eine gute Weile Leihscheine geordnet hat, mag er eine leichte Überarbeitung nicht ausschließen. Er hat das schon gehört, daß Streß zu solchen Phänomenen führen kann. Der Bibliothekar verläßt seinen Platz und geht zu dem Regal mit den Nachschlagewerken – nicht, ohne sich vorher umzusehen, ob nicht eine mißgünstige Kollegin oder gar ein Vorgesetzter ihn dabei beobachtet, wie er während des Dienstes ein Lexikon in einer privaten Angelegenheit zu Rate zieht; doch dann sagt er sich, wobei sich sein Körper leicht strafft, und ihm ein fast aufsässiges Glitzern in die Augen tritt, daß eine mögliche Überarbeitung vielleicht doch nicht nur als eine Privatangelegenheit angesehen werden kann. So ermutigt tritt er an das Regal und greift einen Band Sz-To: „Tinnitus – Tinnitus aurium, Ohrensausen, Ohrgeräusche“. Doch nein, was er hört, ist kein Rauschen, auch kein Pfeifen. Ganz eindeutig ist es ein Klingeln, das immer lauter wird. Auch einen gleichmäßigen Rhythmus vermag er inzwischen zu erkennen. Dieses Geräusch ist nicht in seinem Kopf, ist kein Streßsymptom. Er ist nicht überarbeitet. „Wir Bibliothekare sind doch robuster, als man meinen möchte“, denkt er bei sich und wendet sich wieder den Leihscheinen zu.
Es bleibt das Klingeln. Inzwischen ist es so laut geworden, daß erste Benutzer ihre Köpfe heben und verwundert oder verärgert herübersehen. Kling-klang-kling-klang-kling-klang! Was ist das bloß? Kling-klang-kling-klang-kling-klang! Plötzlich fliegt die große Eingangstüre auf und – kling-klang-kling-klang-kling-klang – auf einem von einem Rentier gezogenen Schlitten kommt der Weihnachtsmann hereingefahren. Er springt herunter und ruft mit seinem Dröhnebaß: „Fröhliche Weihnachten! Euch allen wünsche ich ein schönes Weihnachtsfest!“ Dann stapft er auf den Bibliothekar zu, Rentier und Schlitten folgen ihm. „Auch Dir, mein Sohn, ….“. Doch weiter kommt er nicht.
Der Bibliothekar steht hinter seinem Pult und zischelt. „Würden Sie bitte hier leise sein? Sie befinden sich in einer Bibliothek, falls Sie das noch nicht bemerkt haben!“. „Aber mein guter Junge, ich bin doch der Weihnachtsmann“, dröhnt der Weihnachtsmann, der gar nicht anders kann als dröhnen. Und dann lacht er auch noch. „Weihnachten ist“s. Ich bringe Geschenke“. Er greift hinter sich und zieht einen großen Sack vom Schlitten. Die Augen des Bibliothekars werden schmal. „Den dürfen sie hier aber nicht mit hinein nehmen. Das ist nicht erlaubt“. „Aber da sind doch die Geschenke drin …“ „Das ist völlig egal, was da drin ist. Taschen und ähnliches – und ein Sack ist ja wohl unstrittig so etwas ähnliches wie eine Tasche! – müssen in der Garderobe eingeschlossen werden“. Sein spitzer Finger deutet, keinen Widerspruch duldend, zum Eingang zurück, wo sich die Garderobenschränke befinden. „Dort können Sie Ihren Sack einschließen“. Ratlos steht der Weihnachtsmann vor ihm: „Und die Geschenke?“. „Wenn Sie sie einschließen, dann kommen sie nicht weg. Im übrigen muß ich nach wie vor darauf bestehen, daß Sie hier bitte leiser sind“. In diesem Augenblick schnauft das Rentier. Zwischen den Augen des Bibliothekars steigt eine steile Falte in die Höhe. „Das da muß auch hinaus!“. „Rudolf?“. „Das Tier“. „Das ist Rudolf, mein Rentier“. „Eben – ein Ren-TIER!“. Der Bibliothekar greift in sein Pult und zieht ein schmales weißes Heft hervor. „Hier, unsere Benutzungsordnung, da will ich Ihnen mal was zeigen. Da, sehen Sie: Tiere dürfen nicht mitgebracht werden. Und da steht das auch mit den Taschen. Und da, daß Sie ruhig sein müssen“. Dann fällt sein Finger im Triumph auf einen Satz: Der Benutzer ist verpflichtet, den Vorschriften der Benutzungsordnung und den Anordnungen des zuständigen Bibliothekspersonals nachzukommen. „Da, sehen Sie“s? Sehen Sie“s? Ich bin zuständig. Also. Bringen Sie den Sack und das Tier raus und sein Sie endlich leise“. Der Weihnachtsmann sagt gar nichts mehr. Er schiebt den Schlitten ganz vorsichtig hinaus, damit die Glöckchen nicht klingeln, bindet Rudolf vor der Bibliothek fest, streichelt ihm noch einmal über die rote Nase, dann schließt er den Sack in der Garderobe ein und betritt nun leise die Bibliothek.
So geht er nun durch den Lesesaal. Keine Geschenke kann er hier überbringen, nicht einmal Weihnachtsgrüße. An diesem Ort ist er nichts als ein alter Mann in einem seltsamen roten Anzug. Schon will er wieder gehen – da blickt er sich noch einmal um. Und er muß lachen. Er lacht. Er lacht so laut, daß die Menschen aus dem Schlaf oder den Büchern hochfahren. Er lacht so laut, daß der Bibliothekar herbeigestürzt kommt – lautes Lachen ist nämlich ein besonderes Vorkommnis, das einen vorzeitigen Kontrollgang rechtgertigt! Er lacht und lacht und lacht; dann bricht er ab und sagt, natürlich in seinem Dröhnebaß – wie sonst? – „Fröhliche Weihnachten! Euch allen wünsche ich fröhliche Weihnachten!“.