bibliothekar

Die Weihnachtsfee 2012

Es war einmal ein Bibliothekar, eines jener ätherischen Wesen zwischen Hausstaubmilbe und Bücherskorpion, die in unserer lauten Welt so oft un­beachtet in irgendwelchen Stuben verharren. Wie es sich für einen ordent­lichen Bibliothekar gehört, hatte er sehr viele Bücher gelesen, und wie vie­le Menschen, die viele Bücher gelesen hatten, schrieb er auch Bücher. Sei­ne Neigung zum Grübeln hatte ihn dazu gebracht, immer wieder aufs Neue über den Sinn des Lebens zu philosophieren. Warum leben wir und wozu, aus welchem Grund und zu welchem Zweck? Das waren die Fragen, die ihn beschäftigten, denen er sich mutig stellte, während er die Tage lesend und schreibend, schreibend und lesend, von Büchern umstellt, immer über einen Schreibtisch gebeugt verbrachte – zuhause wie in der Bibliothek, wenn Frühling war, Sommer, Herbst oder Winter, immer. Ob er jemals aß und trank, niemand hat es je gesehen, ob er in den Nächten schlief, wer kann das wissen. Denn wenn er morgens in die Bibliothek gehuscht kam, verschwand er gleich in seinem Arbeitszimmer, worauf er den ganzen lan­gen Tag über nur noch gelegentlich hin und her hastend zwischen den Le­sesälen oder Magazinen und seinem Arbeitsplatz gesehen wurde, sich Bü­cher holend, Bücher zurückbringend. Mit den banalen Belangen des Biblio­theksalltags wurde er schon lange nicht mehr belästigt. An den Abenden verschwand er ebenso eilig, wie er morgens gekommen war, ohne Gruß, mit Büchern unter beiden Armen, um sie in der Nacht zuhause durchzuar­beiten. So gingen viele Jahre ins Land. Der Bibliothekar hatte mit der Zeit ein alle Maße übersteigendes philosophisches, theologisches, anthropolo­gisches, ethnologisches, psychologisches, sogar parapsychologisches Wis­sen zusammengetragen, und als dessen äußere Folge wurden seine Bü­cher über den Sinn des Lebens immer komplizierter, immer ausgefeilter, immer esoterischer, so dass sie zuletzt nur noch von wenigen ausgewiese­nen Fachleuten gelesen und verstanden werden konnten. Er wusste mehr über den Sinn des Lebens als irgendeiner sonst.

An einem heiligen Abend schwirrte recht spät noch eine kleine Fee durch die winterlichen Straßen der Stadt. Ihr war bitterkalt, und am liebsten wäre sie auf der Stelle nach Hause geflogen, um sich aufzuwärmen, um mit den anderen Feen Punsch zu trinken und Weihnachten zu feiern. Doch bedau­erlicherweise durfte sie noch nicht nach Hause zurückkehren. Sie musste nämlich noch einen Wunsch erfüllen. Jede Fee bekommt morgens vor ih­rem Aufbrechen in die Welt der Menschen aufgetragen, eine bestimmte Anzahl von Wünschen zu erfüllen, und darf nicht früher zurückkommen, bis sie alle erfüllt hat. Es ist nun nicht so, dass jede Fee die gleiche Anzahl bekommt, vielmehr erhält die eine mehr, die andere weniger aufgetragen. Doch warum das so ist, das verraten die Feen nicht. Wie auch immer – die­se kleine Fee hatte noch nicht genug Wünsche erfüllt, einer fehlte ihr noch. Deshalb schwirrte sie frierend durch die Straßen und hielt Ausschau nach einem Menschen mit einem Wunsch, um ihm diesen zu erfüllen und endlich, endlich zu den anderen Feen ins Warme zurückkehren zu dürfen. Da entdeckte sie ein erleuchtetes, offenes Fenster und dahinter einen Menschen allein in einem Zimmer voller Bücher, der am Schreibtisch saß, in einem dicken Buch las und sich eifrig Notizen machte. Dass er das Fens­ter zu schließen vergessen hatte, das hatte er darüber noch gar nicht be­merkt. Es war nämlich der Bibliothekar, der in dieser besonderen Nacht, in der alle übrigen Menschen sich froh und munter mit ihren Familien vor Weihnachtsbäumen versammeln, sich beschenken, köstlich speisen und trinken, der in dieser Nacht wie in allen anderen auch inmitten seiner Bü­cher saß und arbeitete. Die kleine Fee ließ sich in dem Bücherregal nieder, dem Schreibtisch gegenüber. Zwar war ihr kalt, und in diesem Zimmer würde ihr gewiss nicht warm werden, aber sie wollte sich den seltsamen Mann erst eine Weile anschauen. Voller Mitgefühl blickte sie zu ihm hinü­ber und dachte bei sich: Wie einsam musste er sein! Und fügte, an ihre Aufgabe denkend, hinzu: Wie viele Wünsche musste er haben! Der Biblio­thekar jedoch hatte seinen Gast noch nicht bemerkt. Ganz in sich versun­ken las und schrieb und schrieb und las er, um dem Sinn des Lebens ein weiteres Stückchen näher zu kommen.

„He, du“, rief sie ihm nach einer Weile zu. Doch der Bibliothekar hörte sie nicht. Sie rief ihn wieder und wieder, jedesmal ein wenig lauter; doch hatte es keinen Zweck, er hörte sie einfach nicht – bis es der kleinen Fee schließlich zu bunt geworden war, so dass sie hinüber zum Schreibtisch flog und mitten auf dem aufgeschlagenen Buch landete. Der Bibliothekar glaubte zuerst, ein Nachtfalter wäre in sein Zimmer geflogen. Fast schon hätte er mit der Hand darauf geschlagen, doch fiel ihm rechtzeitig ein, dass totgeschlagene Falter hässliche Flecken in Büchern hinterlassen, und niemals wollte er ein Buch so beschmutzen. Dann erinnerte er sich auch, dass Winter war, und dass im Winter keine Nachtfalter herumfliegen. Was also saß da auf dem Buch vor ihm? Er sah sich den kleinen Flieger genauer an und, da er nicht glauben wollte und konnte, was er sah, fragte: „Wer oder was bist du?“ „Ich bin eine Fee …“, antwortete die Fee, doch bevor sie auch gleich ihr Anliegen hätte vorbringen können, knurrte der Biblio­thekar „Quatsch! Feen gibt es nicht!“ „Quatsch? Und was siehst du hier?“, wurde er gefagt, und die kleine Fee richtete sich auf, ließ ihre Flügelchen vibrieren und pustete ihm ein wenig Feenstaub entgegen. Er schwieg. Das war eine Gelegenheit, ihr Anliegen endlich vorzubringen: „Hör zu, ich bin gekommen, um Dir einen Wunsch zu erfüllen. Wünsch‘ dir etwas – und wenn er erfüllbar ist, will ich Dir den Wunsch gleich erfüllen. Sag, was wünschst du dir?“ Aber der Bibliothekar glaubte nicht daran, dass Wün­sche von kleinen Feen erfüllt werden konnten. Sein Leben war immer nur Arbeit gewesen, und nur in der, meinte er, könnte man Erfüllung finden. Er hatte auch keine Idee, was er sich wünschen könnte. „Sieh, kleine Fee … oder was immer du bist“, antwortete er deshalb, „es gibt nichts, was du mir gewähren könntest. Wohin mein Streben geht, das habe ich mir in vie­len Jahren erarbeitet. Ich erforsche nämlich schon lange den Sinn des Le­bens. Ich habe so gut wie alles gelesen, was dazu jemals geschrieben wor­den ist, ich habe immer wieder die Schritte meiner Erkenntnis zu Papier gebracht. Und nun glaube ich, endlich so weit zu sein, ihn zu erfassen, den Sinn des Lebens. Was sollte ich mir darüber hinaus wünschen? Welche Erfüllung hättest du mir noch zu bieten?“ Die kleine Fee vermochte es nicht zu glauben. Einen Menschen ohne auch nur einen einzigen Wunsch konnte es doch nicht geben. Wie sollten Feen da noch ihre Aufgaben erle­digen? Außerdem ärgerte sie sich, denn ihr war sehr kalt, sie wollte end­lich heimkehren und sich aufwärmen. Deshalb geriet ihr die Antwort ein wenig ungehalten. „Du machst dir etwas vor … daran glaubst du doch selbst nicht … keinen Wunsch! Ha, wann hätte es so etwas je gegeben?“ Mit grimmiger Miene blickte sie zu dem Bibliothekar hinauf. „Los, komm schon“, fuhr sie fort, „zier dich nicht so lange, sag mir endlich einen Wunsch! Ich will schließlich irgendwann nach Hause.“ Und der Bibliothekar lächelte, was er aber nicht bemerkte, sonst hätte er sich arg gewundert über sich, und er antwortete: „Nun, dann will ich Dir einen Wunsch nen­nen, aber nicht etwa, um ihn erfüllt zu bekommen, denn den kannst Du gewiss nicht erfüllen, sondern um dich davon zu überzeugen, dass es nichts gibt, was du für mich tun kannst.“ Er blickte wehmütig auf seinen Gast hinunter. Die frierende Fee aber drängelte nun „Ja? Endlich. Los! Lass mich nicht so lange warten … welchen Wunsch hast du?“ „Der einzige Wunsch, den ich wirklich habe“, sagte er noch immer lächelnd, „der aber unerfüllbar ist, dieser Wunsch ist, ein Buch zu sein, in dem alles, was ich im Laufe der Jahre an Wissen über den Sinn des Lebens zusammengetra­gen habe, vollständig verzeichnet ist, um es für alle Zeiten zu bewahren. Gib zu, dass du einen solchen Wunsch nicht erfüllen kannst … und nun lass mich weiterarbeiten.“

Als der Bibliothekar nach Weihnachten nicht in die Bibliothek kam, fiel das zunächst gar nicht auf. Doch irgendwann wurde sein Fehlen bemerkt. Ein paar Tage wurde gewartet, ob er nicht doch noch kommen würde, aber als das nicht geschah, machte sich der Bibliotheksdirektor auf, nach ihm zu schauen. Auch auf mehrfaches Klingeln an der Tür hin wurde nicht geöff­net. Der Direktor ließ sich von der Hausmeisterin die Tür aufschließen. Ge­meinsam betraten sie die Wohnung und gelangten bald ins Arbeitszimmer des Bibliothekars. Das Fenster stand noch immer offen. Aber der Gesuchte war nicht dort. Oben auf den Bücherstapeln, die sich auf seinem Schreibtisch türmten, lag ein großes aufgeschlagenes Buch, und der Wind, der durch das offene Fenster herein gefahren kam, blätterte spielerisch darin herum. Der Bibliotheksdirektor warf einen Blick hinein. Verwundert stellte er fest, dass die Seiten dieses Buches alle leer, dass sie weiß und unbedruckt waren.

Autor: EdlefS