Frohes Fest 1998
Jeder kennt sie, keiner nimmt sie ernst, na ja, fast keiner. Anfänger, sogenannte Newbies, fallen gelegentlich noch auf Virenwarnungen herein. Dem Routinier, dem alten Hasen entlocken sie bestenfalls ein mitleidiges Lächeln. So wurde dann auch die im Internet verbreitete Warnung nicht weiter beachtet, auf keinen Fall eine E-Mail „Frohes Fest“ zu öffnen, da sie ein Virus enthielte. Hinzu kam, daß jahreszeitlich bedingt zehn von fünfzehn E-Mails unter der Bezeichnung „Frohes Fest“ verschickt wurden. Es wäre also ein schwieriges, wenn nicht undurchführbares Unterfangen gewesen, die richtige, die eine falsche war, herauszufinden und nicht zu lesen. Andererseits wäre es nicht möglich gewesen, sämtliche unter „Frohes Fest“ laufenden Nachrichten ungelesen zu löschen. Liebe Grüße von lieben Menschen wären dadurch verlorengegangen. Vielleicht wäre sogar ein jovialer Gruß vom Chef unerwidert geblieben. Der Austausch von Weihnachtsgrüßen gehört in unserem Kulturkreis zum festen Ritual der Bestätigung sozialer Beziehungen; auch damit markieren wir unsere Stellung in Familie, Freundeskreis und Beruf. Und wer möchte schon soziale Isolierung oder Karriereknick riskieren? Es passierte also, was unvermeidbar war: die E-Mail „Frohes Fest“ wurde millionenfach geöffnet. Sie enthielt tatsächlich ein Virus. Später dann hat ein Internet-Spezialist die These aufgestellt, daß die Verbreiter dieses Virus selbst die Warnung ausgestreut hätten; jede Erfahrung, so der Experte, mußte ihnen sagen, daß gerade dadurch die E-Mail umso unbefangener geöffnet werden würde, mit einem Achselzucken und einem mitleidigen Lächeln, vor allem aber in dem guten Gefühl, auf solchen Unsinn nicht hereinzufallen.
Auch ein Bibliothekar in einer kleinen Stadt im Norden des Landes beachtete die Warnung nicht weiter. Er öffnete sämtliche E-Mails, die ihn erreichten, also auch jene mit der Bezeichnung „Frohes Fest“. Gerade noch hatte er einen der berüchtigten Rundumschläge eines pensionierten Kollegen gelesen, der alle Bibliothekare pauschal als Weihnachtsmänner bezeichnet hatte, war ganz in Gedanken, ob er darauf etwas erwidern sollte, vielleicht „Wenn einer Weihnachtsmann, dann doch wohl…“ , war zu der Meinung gelangt, daß nicht zu reagieren das Beste wäre – als ihm aufging, daß mit der soeben geöffneten E-Mail etwas nicht stimmen konnte. Es stand nichts zu lesen darin. Stattdessen quollen Bilder aus ihr heraus, kleine Tannenbäume in vollem Schmuck, goldene Sterne mit und ohne Schweif, Engelchen, dicke Weihnachtsmänner, Kerzen, Glöckchen, und füllten rasch die gesamte Bildschirmoberfläche. Bald war sie mit einer dicken Schicht Weihnachten überzogen. Nichts mehr war zu erkennen als dieses wuselnde Chaos. Dazu summte der Computer nicht mehr gleichmäßig vor sich hin, es waren vielmehr Melodien von Weihnachtsliedern zu erkennen. „Vom Himmel hoch“, dann „Alle Jahre wieder“, dann „Kling, Glöckchen, klingelingeling“ brummelte er vor sich hin. Der Bibliothekar drückte die Escape-Taste, doch das bewirkte nichts. Auch der Versuch, mit einer Tastenkombination einen Neustart und damit eine wiederhergestellte Bildschirmoberfläche herbeizuführen, blieb folgenlos. Mit dem Computer war nichts mehr anzufangen. Was immer er unternahm, es blieb in einem Wust von weihnachtlichen Bildern und Tönen stecken. Und als der Bibliothekar schließlich den Stecker aus den Steckdosen zog, um dem Terror ein Ende zu bereiten, da war es bereits zu spät. Es handelte sich nämlich um ein Virus, das in der Lage war, auf Menschen überzugehen. Er saß da, vor dem stillgelegten Computer, und summte Weihnachtslieder vor sich hin.
Bald schon war dem Bibliothekar, als sähe er überall um sich herum Weihnachtszierat. Wohin er auch ging, ob innerhalb oder außerhalb der Bibliothek, nahm er kleine Tannenbäume in vollem Schmuck, goldene Sterne mit und ohne Schweif, Engelchen, dicke Weihnachtsmänner, Kerzen, Glöckchen wahr. Und er beharrte nicht nur darauf, das alles zu sehen, er verstieg sich sogar zu der Behauptung, das alles schon seit Monaten vor Augen zu haben. Bereits in den späten Sommermonaten wollte er in Supermärkten Berge von Weihnachtsgebäck entdeckt haben! Doch die Unsinnigkeit seiner Ausführungen wurde immer weniger bemerkt. Das Virus war in hohem Maße aggressiv, immer mehr, Kollegen und Kolleginnen, Benutzer und Benutzerinnen, ganz normale Menschen auch, wurden befallen. Die Infektion griff rasch um sich. Bald war kaum einer übrig, der nicht Weihnachtliches sah, wohin er auch blickte. Zu den visuellen kamen akustische Symptome. Es begann mit Hörstörungen wie dem vermeintlichen Hören von Glöckchenklingeln und steigerte sich zu der Wahnvorstellung, überall und immer von Weihnachtsliedern umspielt zu werden.
Die Wissenschaftler, die sich rasch zu Wort gemeldet und in den Medien kühne Theorien aufgestellt hatten, verstummten ebenso rasch wieder. Wer eben noch wortreich die Phänomene als „teilweise retrospektive Halluzinationen“ dargestellt hatte, sah und hörte nun selbst Glöckchen und Bäumchen und Engelchen; und schwieg. Anzumerken bleibt, daß die Infektion nicht mit Schmerzen und nur in seltenen Fällen mit Unwohlsein einherzugehen schien. Häufig wirkten die Menschen eher freudig bewegt, allem Anschein nach fühlten sie sich wohl. Auffällige Symptome waren glänzende Augen und eine ausgeprägte Neigung zur Sentimentalität. Gegenmittel gab es keine. Später stritten die Wissenschaftler dann darüber, wie es hatte geschehen können, daß Menschen sich an Maschinen ansteckten. Schulmediziner vertraten die Auffassung, daß nur bei direktem Kontakt über Maus oder Tastatur das Virus hatte übergehen können. Zu Recht wiesen sie darauf hin, daß zum Beispiel Tröpfcheninfektion auszuschließen war. Alternativen Heilmethoden zugewandte Leute hingegen erklärten den mysteriösen Übergang des Virus von der Maschine auf den Menschen mit einer Übertragung mittels elektromagnetischer Wellen vom Bildschirm direkt in die Augen. Das Beharren auf direktem Kontakt zeige nur wieder einmal, daß die Schulmedizin nicht in der Lage sei, sich von ihrem naturwissenschaftlichen Weltbild zu lösen.
Der Bibliothekar, wie alle anderen auch, fiel in eine Art Weihnachtstfieber. Auch mit ihm war nichts mehr anzufangen. Bereits nach etwa vier Wochen kam es zu schwerwiegenden Veränderungen seiner Persönlichkeit. Diese hatten sich durch eigenwillige Handlungen im Verlauf der Virus-Infektion angekündigt. So konnte seine Frau ihn dabei beobachten, wie er eines späten Abends Süßigkeiten und kleine Geschenke in die Schuhe seiner Kinder füllte! Aber der Höhepunkt seiner Erkrankung war zweifellos der Ausbruch anscheinend uneingeschränkter Menschenliebe. Noch dem begriffsstutzigsten Benutzer erklärte er geduldig die Funktionen des OPAC. Der Studentin, die nicht zuhörte, zeigte er gleichmütig mehrmals den Weg zu den Kopierern. Dem säumigen Entleiher wollte er gar die Mahngebühren erlassen. Tief in seinem Innern verspürte er die Neigung, sich mit anderen, mit allen Menschen im Geiste von Weihnachten zu begegnen, sich mit ihnen um illuminierte Tannenbäume zu scharen, fromme Lieder zu singen, einander mit feuchten Augen zu umarmen, zu küssen gar. So kam es, daß er bereitwillig die Betriebsweihnachtsfeier organisierte, weiterhin, daß Studentinnen, sobald sie seiner ansichtig wurden, sofort die Bibliothek verließen. Schließlich konzentrierte er sich ganz auf seine Familie.
So rasch und heftig seine Erkrankung sich entwickelt hatte, so schnell verschwand sie auch wieder. Ein wenig Ruhe genügte, um den Bibliothekar wiederherzustellen. Nach den Feiertagen blieb die Bibliothek ein paar Tage geschlossen, so daß er, unbelastet von dienstlichen Angelegenheiten, wieder gesundete. Seine Frau war mit Aufräumen beschäftigt, die Kinder spielten mit ihren Geschenken; und er nahm sich endlich die Zeit, all die liegengebliebenen Videobänder anzusehen, die sich im Laufe des zu Ende gehenden Jahres auf seinem Nachtschrank angesammelt hatten. Gelegentlich noch traten dabei Symptome wie Völlegefühl oder Sodbrennen auf. Aber die sind für das letzte Stadium dieser Krankheit typisch und kein Grund zur Besorgnis, deuten sie doch auf ein Abklingen hin. Völlig genesen kehrte der Bibliothekar in den ersten Januartagen an seinen Arbeitsplatz zurück. Er schaltete den Computer ein. Dieser funktionierte einwandfrei, die Bildschirmoberfläche zeigte keinerlei Absonderheiten mehr. Links oben blinkte ein Signal „Sie haben neue E-Mails“. Er beschloß, sich diese erst später anzusehen.